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Interpersonale Führung

Grundlage für ein zeitgemäßes Führungsverständnis


 
Peter Pröll

Ein Artikel von Peter Pröll
Lektorat Anke Schaffrek
Besonderen Dank an Niels Pfläging, Silke Hermann und Ernst Weichselbaum

Lesezeit: ca. 9 min

 

Es gibt wenige Begriffe in der Arbeitswelt von so hoher Bedeutung, wie den Begriff der Führung: Sei es im Kontext der Personalführung, in der zu wenig Verständnis darüber herrscht, ob und wie sinnvoll es ist, Menschen zu führen. Oder im Bereich von „New Work“ und im agilen Kontext, wenn wir Selbstführung und Selbstorganisation erreichen wollen und über alte Denkmuster stolpern. Dabei ist das Führungsverständnis elementar – als Basis für das Organisationsdesign und für den Erfolg eines Unternehmens.

Wir leben veraltete Führungsparadigmen aus Zeiten von planbaren, stabilen Märkten und versuchen dabei, unsere Erfahrungen ins Jetzt, in die Zeit hochvolatiler, komplexer Märkte zu übertragen. Optimierung tradierter Paradigmen, statt Neudenken auf Basis des veränderten Kontextes, beherrscht das Tagesgeschehen. Ich möchte im Folgenden Führung unter die Lupe nehmen und zum Neudenken einladen.

 

Der klassische Ansatz: expersonale Führung

Führungskraft und Mitarbeiter

Der klassische Führungsansatz ist der, mit dem wir aufgewachsen und durch den wir geprägt sind. Unsere gesamte Sprache „denkt“ in dieser Weise. Googeln Sie „Führung“ oder suchen Sie nach Synonymen. Die Chancen stehen gut, dass Sie bisher ausschließlich in diesem Rahmen gedacht haben, wenn das Thema Führung zur Sprache kam. Ein Rahmen, der sich dadurch auszeichnet, dass es immer einen aktiven und einen oder viele passive Parts gibt. Beispiele hierfür sind in abnehmenden Extremen:

  • Chef und Untergebene
  • Leader und Follower
  • Servant Leader und Unterstützte

Für diese Art der klassischen Führung schlage ich einen neuen Begriff vor:

Ich nenne diese Art der Führung „expersonale Führung“ - einer Person entspringend.

Dieser Begriff soll als Differenzierung zur „interpersonalen Führung“ dienen, auf die ich später eingehen werde.

Der historische Hintergrund von expersonaler Führung ist in zweifacher Hinsicht gewaltig. Expersonale Führung basiert auf einem Machtgefälle. Die führende, aktive Person hat fachliche oder personelle Verantwortung und nutzt diese zur Steuerung der zu führenden Menschen.

Diese Steuerung von Menschen und die damit verbundene Macht- und Kontrollausübung hat – neben den ethisch fragwürdigen Aspekten – in der Vergangenheit durchaus eine klare und sinnvolle Aufgabe erfüllt. Im Rahmen der Sozialtechnologie Management stellten Ausrichtung, Standardisierung und Gleichschaltung Schlüsselelemente dar, um Effizienz zu erreichen. Individualität und Mitdenken sind im Rahmen von Management nicht gefragt oder sogar unerwünscht.

Ein passives, eher veränderungsträges Verhalten ist die menschliche Reaktion auf jegliche Art expersonaler Führung. Was den Menschen ausmacht, was ihn von Computern, Robotern und Algorithmen unterscheidet, wird durch expersonale Führung unterdrückt. Mitdenken, Eigeninitiative, Verantwortungsübernahme und Kreativität werden stark reduziert. In der Folge gleicht der Mensch in seinem Verhalten mehr und mehr einem Ding. Tatsächlich passen die geläufigen Begriffe von Human Resources, Personal und Personalführung daher perfekt. Der Mensch wird in seinem Verhalten zur Sache und auch als solche verwaltet. Der MIT-Professor und Forscher der Sozialökonomie Douglas McGregor hat sich dieses Effektes angenommen und ihn in seinem Werk „The Human Side of Enterprise“ bereits 1961 ausführlich beschrieben.

Zutrauen veredelt den Menschen, ewige Vormundschaft hemmt sein Reifen.

Expersonale Führung basiert immer auf dem Aufbau oder dem Erhalt eines Machtgefälles. Meist beruht dieser Machtanspruch heutzutage in dem Nicht-Zutrauen anderen gegenüber. Steuerung und Kontrolle sind notwendige Konsequenz aus dieser Haltung. Und ja, ich ordne „Servant Leadership“ in die Kategorie der expersonalen Führung ein. Denn ein dienendes Führen führt in der Konsequenz zu einem bequemen Verhalten. Ein Verhalten, welches auf die subtile, hintergründige Steuerung anspringt und sich passiv führen lässt.

Servant Leadership ist sicherlich die Krone der Optimierung der expersonalen Führung und somit das Maximum dessen, was innerhalb der Sozialtechnologie Management in hierarchisch gesteuerten Unternehmen erreicht werden kann. Es ist ein langer Weg von striktem, diktatorischem Command & Control hin zu Servant Leadership. Doch hier endet der Weg. Konsequente Selbstführung (wie in Selbstorganisation) ist in einem solchen Kontext undenkbar. Um weiterzukommen, reicht Optimierung der expersonalen Führung nicht. Wir müssen Führung von Grund auf neu denken.

Zeitgemäße Führung ist interpersonale Führung

Team beim Diskurs

Niklas Luhmann bietet Hilfe, wenn wir aus dem expersonalen Führungsgefängnis ausbrechen wollen. In seiner Systemtheorie beschreibt er, dass das Wesentliche zwischen den Menschen passiert. Und an dieser Stelle – zwischen den Menschen – kann auch Führung entstehen.

Ich möchte hier den Begriff der „interpersonalen Führung“ einführen – zwischen Personen existierend.

Wir lösen dazu den Führungsbegriff vom Subjekt. Es braucht keine dedizierte Rolle oder Position mehr, um Führung auszuüben.

Voraussetzende Gedanken zu interpersonaler Führung

Dem Machtanspruch Einzelner schmeichelt das nicht. Es schmeichelt auch nicht den Menschen, die von der Menschheit allgemein ein recht negatives Bild haben und denen es an Zutrauen in andere Menschen fehlt. Wir sind in unserem Menschenbild leider stark durch Hobbes geprägt, halten zynische Fiktion à la „Herr der Fliegen“ für realistisch und werden durch unsere Erziehung, die Gesellschaft, unsere Sprache und die Medien in diesem dysfunktionalen Menschenbild immer weiter bestärkt: Menschen verhielten sich nur „zivilisiert“ und gemeinsinnig, wenn sie fremdgesteuert geführt werden würden, wenn es ein „Zivilkorsett“ gäbe, so die These. All das uneigennützige Verhalten für die Gemeinschaft wäre im Grunde Fassade. Fiele diese, dann würden wir wie die Wilden leben. Daher der Ausdruck der „Fassadentheorie“. Aus diesem Menschenbild leitet sich der Führungsanspruch ab, der in expersonalen Führungskonzepten mündet. Tatsächlich kann man sagen, dass unter der hobbes’schen Prämisse der Fassadentheorie ausschließlich expersonale Führung denkbar ist und tayloristisch aufgebaute Entscheidungshierarchien die alternativlose Konsequenz darstellen.

Zum Beweis der Fassadentheorie – und man versucht sie seit Hobbes erfolglos zu beweisen – müssen suspekte Experimente herhalten, die bei wissenschaftlicher Betrachtung eben diese Theorie mit Bravour widerlegen! Rutger Bregman hat sich dieses Themas angenommen und die wissenschaftlichen Aspekte zum Menschenbild in seinem Werk „Im Grunde gut“ zusammengestellt. Das Buch empfehle ich unbedingt als Grundlagenwerk für Gesellschafts- und Menschenverständnis. Wissenschaftlich kann man sich der Frage des Menschenbildes auch nähern, wenn man Luhmann und McGregor studiert oder an die Anfänge der Sozialpsychologie geht und bei Kurt Lewin nachliest. Tatsächlich wären Erfolgsgeschichten à la Svenska Handelsbanken, Toyota, Southwest Airlines, dm-drogerie markt und vielen anderen Unternehmen unter der Prämisse einer Fassadentheorie undenkbar. Agiles Arbeiten, Selbstorganisation, Selbststeuerung und Demokratie werden unter dieser Prämisse als Gefahren wahrgenommen, die in Anarchie und Chaos münden müssten. Die Fassadentheorie ist ein Plädoyer gegen Komplexität. Sie fordert und erfordert Planung, Steuerung, Gleichschaltung und Kontrolle.

Kurz: Die Fassadentheorie ist der Realität nicht angemessen – weder der der menschlichen Natur, noch der Realität eines komplexen Marktes! Angemessen ist statt dessen das Bild eines Menschen, der sich der Bedeutung der Gemeinschaft bewusst ist. Sein Handeln ist nicht egoistisch motiviert, sondern richtet sich stark an den Bedürfnissen dieser Gemeinschaft aus.

Führung ohne Führungsrolle

Wenn ich auf Luhmanns Systemtheorie verweise, möchte ich Sie warnen. Luhmannsche Texte sind nicht einfach zu erschließen. Luhmann möchte der geneigten Leserin das Leben nicht schwer machen. Vielmehr ist sein Anspruch darin begründet, dass unsere Sprache wenig geeignet ist, um seine Theorien in Worte zu fassen. Unsere Sätze bestehen aus Subjekt, Prädikat und Objekt: Der Teamleiter (Subjekt) führt (Prädikat) das Team (Objekt). Luhmannsche Systemtheorie ist jedoch im Wesentlichen subjektfrei – genau wie das Konzept der interpersonalen Führung. Es gibt kein Subjekt, welches das Objekt führt.

Entsprechend ist die gern genommene Variante „das Team führt/bestimmt/managt/organisiert sich selbst“ eine irreführende Vereinfachung. Man setzt dabei Subjekt und Objekt gleich und hat damit lediglich Fremdsteuerung ausgeschlossen. Wir haben nicht geklärt, was Selbstorganisation in Teams ist, sondern nur klargestellt, was sie nicht ist.

Wir dürfen an dieser Stelle nicht aufhören zu denken. Würden wir uns mit diesem vereinfachten Verständnis zufriedengeben, erhalten wir führungsloses Chaos oder verkappt-expersonale Führung. Im letzten Fall spricht man gern von informellen Hierarchien, die sich in „selbstorganisierten“ Teams ausbilden und die Selbstorganisation erst ermöglichen würden. Mit Selbstorganisation hat diese Mogelpackung nichts zu tun. Weil der Begriff der Selbstorganisation zu oben genannter Denkeinschränkung und Vereinfachung verführt, lade ich ein, statt dessen von „interpersonaler Führung“ zu sprechen und weiterzudenken.

Ernst Weichselbaum ist ein Meister der aufs Wesentliche reduzierten Worte. Sein Buch „In jedem Unternehmen steckt ein besseres“ sei an dieser Stelle wärmstens empfohlen. Aber selbst er kann interpersonale Führung durch das Defizit unserer Sprache nicht in Worte fassen. Er bedient sich jedoch eines hochintelligenten Kunstgriffes. Er beschreibt nicht, was interpersonale Führung ist. Vielmehr verwendet er den Begriff der Autorität und wendet sich somit der Quelle von Führung zu:

Autorität ist keine Eigenschaft von Personen, sondern wird durch Interaktion von mindestens zwei Personen erzeugt. Autorität geht von Vereinbarung aus.

Der expersonalen Führung erteilt er damit die klare Absage. Rufen wir uns die Folgen von expersonaler Führung ins Gedächtnis, kann man Weichselbaum nur zustimmen. Expersonale Führung ist ethisch fragwürdig und führt zu einem passiven, wenig engagierten, nicht mitdenkenden Handeln bei den Betroffenen. Die Vorteile expersonaler Führung (Standardisierung, Steuerung, Kontrolle) wiegen die Nachteile nicht mehr auf und Bereiche und Arbeitsschritte, in denen diese Qualitäten gefragt sind, wurden bereits überwiegend automatisiert.

Es ist an der Zeit, expersonale Führung als das zu sehen, was sie ist: obsolet, der Realität nicht angemessen und ein Luxus, den wir uns nicht mehr länger leisten können. Statt dessen müssen wir auf Strukturen und Entscheidungsmethoden setzen, die der interpersonalen Führung entsprechen. Weil es ethisch angezeigt ist. Und weil in einer nachhaltigen, unplanbaren Welt auch Führung komplex sein muss:

Interpersonale Führung gewährleistet Diversität, fördert das Individuum, stärkt die Gemeinschaft und ist der Kern unserer Demokratie. Sie ist die Voraussetzung für Komplexitätsrobustheit und Wertschöpfung, für Ideenreichtum und nachhaltigen, wirtschaftlichen Erfolg.

 
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