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Über den Unterschied von Theorie und Praxis

... und welche Rolle unsere eigene Erfahrung spielt.


 
Peter Pröll

Ein Artikel von Peter Pröll
Lektorat Anke Schaffrek

Lesezeit: ca. 10 min

 

In unserem Sprachgebrauch existieren unzählige Sprichwörter, Redensarten und Formulierungen, die den praktischen Nutzen von Theorie in Frage stellen: 

„Grau ist alle Theorie.“
„Golden die Praxis, hölzern die Theorie.“
„Theoretisch ja, ..... aber praktisch?“

Sie implizieren: Individuelle Erfahrung ist von immensem Wert und praxisrelevanter als jede Theorie - ganz im Gegensatz zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, die eher als wenig hilfreich für die konkrete Situation empfunden werden.

Dabei basiert jedes Handeln auf Annahmen, Glaubenssätzen und Hypothesen, also auf Theorie. Das Ergebnis unseres Handelns – genauer: unsere Interpretation vom Ergebnis – verbuchen wir schließlich als Erfahrung. Theorie und Praxis lassen sich also gar nicht trennen. Redensarten und Sprichwörter, die das Gegenteil behaupten, wollen existierendes Wissen ignorieren und sprechen für eine zutiefst ablehnende Haltung gegenüber Intellektualität, Wissenschaft und Denken.
 

Denke erst und handle dann und handelnd denke stets daran.

Unsere Theorien, auf derer Basis wir agieren, sind uns oftmals nicht bewusst und zumeist sogar in sich widersprüchlich. Das lässt auch das Handeln unbewusster und widersprüchlicher werden. Ein sich selbst als „sehr pragmatisch“ beschreibender Unternehmer behauptete mir gegenüber einst steif und fest, er handele grundsätzlich theoriefrei. Das war der wohl stärkste Widerspruch in der eigenen, unbewussten Theorie, der mir bis dato begegnet ist. Unbewusstheit und Widersprüche sind dabei alles andere als unproblematisch:
 

Der häufige, ungerechte Vergleich von Praxis und Theorie im Rahmen des Managements hat den Fortschritt in diesem Feld stark behindert. [...] Er hat es Quacksalbern und Scharlatanen ermöglicht, mit wertlosen Spielereien und Programmen hausieren zu gehen.

Theorie und Praxis lassen sich nicht trennen. Sie sind die zwei Seiten einer Medaille. Wollen wir kein Opfer unserer eigenen Unbewusstheit oder gar von Quacksalbern und Scharlatanen werden, sondern stattdessen wirkungsvoll handeln, müssen wir anfangen, auf Ebene der Theorien zu denken und Bewusstheit schaffen. Das resultiert nicht selten in überraschenden Erkenntnissen - ist aber anspruchsvoll und herausfordernd. Sprich: Wir müssen das schon wollen!

Nach einem Vortrag zum Thema Verhalten und Engagement in Unternehmen sprach mich ein Gast an. Er war ganz begeistert, hatte ihm das Ausleuchten und Bewusstmachen sowie das Prüfen bisher unbewusster Annahmen  völlig neue und effektivere Handlungsperspektiven verschafft. DAS ist die praktische Implikation von theoriebasierter Arbeit. Wirksamkeit und neue Handlungsoptionen entstehen nur durch gute Theorie.
 

Eine gute Theorie muss der Realität angemessen sein.

Und wie ist unsere Erfahrung einzuordnen? Erfahrung begründet sich auf dem, was uns durch unser Tun ganz praktisch widerfährt, was wiederum davon abhängt, welche Theorien und Annahmen unseren Handlungen zugrunde liegen. Erfahrungen hängen also von unseren eigenen Theorien ab und werden durch sie determiniert. Sind uns unsere Theorien nicht bewusst, haben wir keine Möglichkeit, unsere Erfahrungswelten zu gestalten.

Aber es wird noch teuflischer. Es gibt nämlich nur zwei Arten von Erfahrungen. Zum einen die Erfahrungen, welche unsere Theorien bestätigen – seien sie bewusst oder unbewusst. Und zum anderen solche, die das Zeug dazu hätten, unsere weniger geeigneten Glaubenssätze und nicht selten unser ganzes Weltbild wie ein Kartenhaus einstürzen zu lassen und somit die Möglichkeit böten, unsere Theorien zu verifizieren oder zu falsifizieren? Das ist leider ein gefährlicher und eitler Trugschluss! Die Neurowissenschaft zeigt uns, dass die unseren Theorien widersprechenden Erfahrungen in unserer Wahrnehmung so gefiltert und uminterpretiert werden, dass sie doch wieder bestätigend erscheinen. Ohne Bewusstsein über unsere Theorien drehen wir uns also zwangsläufig im Kreis. Wir bestätigen uns immer wieder selbst und sind dazu verdammt, immer und immer wieder die gleichen Erfahrungen zu machen.
 

Erfahrung ist ´ne Bitch!

Stützen wir uns maßgeblich auf unsere Erfahrungen (“aber meiner Erfahrung nach…”), so glauben wir in der Konsequenz nur das, was wir glauben wollen. Das ist zum Einen überheblich und zum Anderen gefährlich. Matrix-Fans würden von der „blauen Kapsel“ sprechen. Wenn wir mit dem Status quo und unseren Erfahrungen zufrieden sind, dann mag das für uns stimmig sein. Streben wir allerdings ein tieferes Verständnis, Bewusstheit und damit echte Wirksamkeit im Handeln an, wollen wir die Freiheit erringen, unsere Erfahrungswelten wechseln und aussuchen zu können, dann müssen wir zwangsläufig auf Theorieebene beginnen, uns der eigenen Annahmen und Glaubenssätze bewusst werden, sie überprüfen und abstauben. Also dann doch lieber die “rote Kapsel”.
 

Es gibt nichts Praktischeres, als eine gute Theorie.

Wissenschaftliche Theorie und Evidenz jenseits unserer trügerischen Erfahrung ist dabei äußerst hilfreich. Wissenschaft ist stets bemüht, die Selbsttäuschungen zu brechen und tiefer zu schauen, als nur auf die oberflächliche Wahrnehmung unserer Erfahrungen. Wenn unsere eigene Erfahrung der wissenschaftlichen Theorie widerspricht, zeigt sich eine Lernchance. Wir sollten dann herausfinden, wieso ein Widerspruch besteht (“Wieso habe ich an dieser Stelle eine andere Erfahrung?”), statt die Theorie (“klingt ja theoretisch gut”) von der Realität (“aber in der Praxis...”) abzuspalten. Das funktioniert am besten durch Lesen, um Wissen aufzubauen und die Widersprüche und Lernchancen zu identifizieren. Und im anschließenden Diskurs, um die Widersprüche aufzulösen und Wissen in anwendbares Verständnis zu überführen.

Theorie ist nicht grau oder hölzern. All diese Sprichwörter und Vorurteile werden ihr nicht gerecht. Sie ist sehr lebendig! Und ohne sie gibt es keine Praxis.


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