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Über die Arbeit mit Werten

am Beispiel der Scrum-Werte


 
Peter Pröll

 

Ein Beitrag von Peter Pröll
Lesezeit ca. 7 Minuten

 

Im Zusammenhang mit der Psychologie von Arbeit und Zusammenarbeit verstehen Menschen unter „Werten“ ganz unterschiedliche Dinge. Das liegt daran, dass der Begriff selten wissenschaftstheoretisch verwendet wurde und eher im umgangssprachlichen Gebrauch angesiedelt ist. „Werte“ ist eine echte Worthülse, ein Klapperbegriff, schwammig und unklar. Eine Annäherung an den Begriff ist daher nicht ganz einfach. Mehr Klarheit zu schaffen, ist genau deshalb von Bedeutung.

 

Was verstehen wir unter Werten?

Im Dialog mit Menschen, die mit Organisationsentwicklung zu tun haben, ist mir aufgefallen, dass dort meist nicht zwischen persönlichen bzw. individuellen Werten und "geteilten Werten" (z.B. Firmenwerte, Teamwerte, Werte in Scrum) unterschieden wird.

Persönliche Werte werden durch Gesellschaft, Erziehung und Erleben geprägt. Sie sind ein Ausdruck unserer Persönlichkeit. Sie sind hoch aufgehängt. Religion und Spiritualität gehören in diese Kategorie. Unsere Werte sind für uns daher im wahrsten Sinne des Wortes „heilig“. Ändert sich unser Wertekanon im Verlauf der Zeit? Die Prägung und Entwicklung von Werten sehe ich eher als einen langfristigen, nachhaltigen und tiefgehenden Prozess. Manch einem mag es gelingen - basierend auf einer tiefgreifenden, persönlichen Erkenntnis und einer freiwilligen, eigen getroffenen Entscheidung - seinen Wertekanon auch spontan zu ändern.

Wie sieht es mit Werten im Arbeitsumfeld aus? Ich höre oft die Formulierung von „geteilten Werten“. Das würde bedingen, dass jedermensch in der Organisation den zu teilenden Wert für sich als persönlichen Wert zuvor realisiert hat. Wäre das nicht der Fall, gäbe es nichts zu teilen. Oder man müsste den Menschen im Unternehmen die gewünschten Werte erst „vermitteln“. Ein eher langfristiger, steiniger und anstrengender Weg mit fragwürdigen Erfolgsaussichten. Finanziell lukrativ ist das für Coaches und Berater. Dabei werden die notwendigen Werte für das Unternehmen in langen Workshops erarbeitet, um dann „Werte-Arbeit“ zu leisten. Daraus folgt:

Als Unternehmenswerte werden immer nur die Werte definiert, die im Unternehmen Mangelware sind.

Beispiel? Ein Unternehmen, welches Gender-Equality in Workshops aufwendig als Problem identifiziert hat, wird diesen Wert kommunizieren, als verzweifelten Versuch, eine Änderung herbeizuführen. Eine Firma, die natürlicherweise eine Kultur von Gender-Equality hat, wird darüber eher nicht oder nur beiläufig sprechen. Es wird gegenüber Kund:innen, Bewerber:innen und gegenüber den eigenen Kolleg:innen einfach entsprechend gehandelt!

Für mich ist die Vorstellung, mein Arbeitgeber (oder sonst ein Dritter) verlangt von mir, an meinem persönlichen Wertekanon etwas zu ändern, um gewünschte und definierte Unternehmenswerte zu teilen, zutiefst übergriffig. Die Gedanken sind frei? Das wäre Geschichte.

Eine andere Formulierung und Denkweise von Kolleg:innen in der Organisationsentwicklung ist die, dass das Unternehmen selbst die Werte leben und verkörpern kann. Nun, das ist nicht möglich. Ein Unternehmen besteht aus der Kooperation und Kommunikation von Menschen (Luhmann, Systemtheorie). Diese können keine Werte besitzen. Nur die Menschen können individuelle Werte vertreten. Damit wären wir wieder beim Teilen von Werten und der Übergriffigkeit, die zur Gleichschaltung im Denken und somit zur Reduktion von Innovation und Entwicklung führen wird. Vielfalt? Diversität? Fehlanzeige. Das ist sowohl in menschlicher, als auch in wirtschaftlicher Hinsicht für ein Unternehmen nicht erstrebenswert! Ein Unternehmen, dass Diversität als Wert proklamiert? Ein Widerspruch in sich.

Ich fürchte, Wertearbeit im Unternehmen ist bestenfalls wirkungslos. Doch lohnt es sich zu verstehen, was hinter diesem ganzen Hype steckt, denn quasi die ganze New-Work-Bubble scheint von nichts anderem mehr zu reden. Denn:

Wer nicht zwischen Verstehen und Verständnis unterscheidet, sieht nur verhärtete Fronten.

Und auch der Scrum-Guide in seiner aktuellsten Form schließt sich dem an. Diesen nehme ich als Beispiel, um der Werte-Geschichte auf den Grund zu gehen. Sie werden es mit den Werten, die für Ihr Unternehmen - auch jenseits von Scrum - definiert wurden, gut nachvollziehen können.

Die Scrum-Werte

Kennen Sie die unsinnigen und skurrilen Hinweis- und Verbotsschilder, bei denen man sich umgehend fragt, welche Geschichte dahintersteckt? Ähnlich geht es mir mit den „Scrum-Werten“. Was ist passiert, dass der Scrum-Guide fordert, dass das Scrum-Team die Werte Selbstverpflichtung, Mut, Fokus, Offenheit und Respekt nicht nur teilen, sondern „verkörpern“ soll?

Mut

Wenn wir mutig sein müssen, ist die Situation gefahrbeladen oder scheint es zumindest. Und ja, Scrum im Sinne des Scrum Guides und in klassisch-zentralisierten, hierarchisch organisierten Unternehmen praktiziert, ist gefährlich. Es wird eine unglaubliche Systeminkonsistenz erzeugt, da zwei Führungsparadigmen, die sich diametral widersprechen, aufeinanderprallen. Feuer und Eis! Gefühlte 99,9% der Probleme, die Scrum Master in Meetups und auf Scrumtischen hilfesuchend zur Diskussion bringen, basieren auf dieser Inkonsistenz. Die Situation ist gefährlich für die Karriere der Einzelnen und für das Unternehmen an sich. Aus diesem Grunde wird Scrum selten so gelebt, wie es frühere Versionen des Scrum Guides vorgesehen haben. Man kann an dieser Stelle statuieren: Menschen sind nicht dumm. Sie springen nicht einfach in den Abgrund, wenn man „hopp“ ruft. Übrigens auch nicht, wenn man Mut als Wert einfordert. Anstatt das Problem der Systeminkonsistenzen anzugehen und die Gefahr zu beseitigen, wird an Symptomen rumgebastelt und von Betroffenen ein „Augen zu und durch“ verlangt, damit Scrum funktioniert. Mut einzufordern empfinde ich als hochgradig unprofessionell und ausgesprochen feige.

Offenheit

Wenn man Menschen offen begegnet und eine Umgebung der Offenheit schafft, dann öffnen sich diese ebenfalls - automatisch und gern. Dazu braucht es keine Forderung eines Wertes. Verschlossen zu sein kostet Kraft und entspricht nicht dem sozialen Wesen des Menschen. Wir sind natürlicherweise offen und es sind die Umstände, die uns verschlossen werden lassen. Wieso werden nicht die Umstände beleuchtet und stattdessen wieder nur Symptome adressiert? Wieso müssen die Menschen wieder herhalten für einen Konzeptfehler? Wann begreift man, dass Menschen nicht das Problem sind, sondern das System, die Unternehmensstruktur schlicht unpassend ist?

Selbstverpflichtung

Selbstverpflichtung oder Verantwortungsübernahme ist im Bereich der Werte zu hoch aufgehängt. - Zu hoch? Kann etwas in diesem Zusammenhang zu hoch aufgehängt sein? Ja! Denn je höher man etwas aufhängt, desto schwerer ist es zu erreichen. Dieser Gedanke ist den Scrum-Guide-Verantwortlichen wohl nicht gekommen. Stattdessen wurde erst das Prinzip der Selbstverpflichtung implizit eingeführt und weil die Menschen nicht bei „hopp“ über die Klippe gesprungen sind, hat man mehr Selbstverpflichtung gefordert und es zum heiligen Wert erklärt. Würde man sich um das Problem kümmern, stände die Frage im Raum, wieso Menschen nicht ihrem Naturell entsprechend Verantwortung übernehmen. (Wissenschaftliche Hintergründe: McGregor, „Human Side of Enterprise“; Bregman, „Im Grunde gut“). Und wenn man jetzt die Ursache bei den Menschen suchen wollte, hat man bereits wieder den falschen Fokus.

Respekt

Wir finden in hierarchisch gesteuerten Unternehmen Strukturen, die den Respekt gegenüber den Menschen im Unternehmen missen lassen. Dann von den Betroffenen Respekt einzufordern, ist eine Dreistigkeit, die es zu überbieten gilt. Auch hier werden Symptom und Problem verwechselt. Damit nicht genug der Kritik. Ich finde es respektlos, wie die Werte in Scrum die Verantwortung für die Unternehmensstrukturen an die Menschen abwälzen, die am allerwenigsten auf diese Strukturen Einfluss haben.

Fokus

Begriffsüberhöhung erschwert auch hier eine Erreichbarkeit wesentlich. Dabei ist Fokus kein Wert. Fokus ist für mich nichts weiter als eine Technik! Sieht man es so platt, so unspektakulär, dann hat das einen Vorteil. Eine Technik braucht man nur zu üben. Im Falle von Fokus gibt es jedoch Einflussfaktoren, die behindernd wirken. Und ja, diese sind in der Regel im System, in der Unternehmensstruktur, in Führungsparadigmen der hierarchisch aufgebauten Unternehmen zu verorten. Diese Einflussfaktoren sind dabei so stark ausgeprägt, dass man trotz Übung Fokus nicht nachhaltig erreichen kann. Auch Fokus wird maßgeblich an falscher Stelle eingefordert.

Prinzipien statt Werte

Wenn sich Unternehmen Werte geben, dann hat das im besten Falle mit Marketing zu tun. Versucht man Werte im Rahmen der Organisationsentwicklung zu etablieren, sind wir direkt im Übergriff und arbeiten an den Symptomen, statt an den Ursachen. Die Rechnung Ihrer Berater und Coaches wird enorm hoch ausfallen und die Betroffenen werden in den Widerstand gehen. Lassen Sie es besser. Verwenden Sie Unternehmenswerte gern als Marketinginstrument und bringen Sie mich damit zum Schmunzeln. Authentizität strahlt man damit nicht aus. Machen ist geiler als sagen.

Setzen Sie lieber dort an, wo Land zu gewinnen ist. Unternehmen bestehen aus Kommunikation und Kooperation. Diese basieren nicht auf Werten, sondern auf Vereinbarungen und Prinzipien. Vereinbaren Sie im Unternehmen Prinzipien, nach denen sich Kommunikation und Kooperation richten soll und üben Sie diese Prinzipien. Dann schaffen Sie den fruchtbaren Boden für Entwicklung und jedermensch kann frei sie selbst bleiben. Das bringt Vielfalt und Farbe ins Unternehmen. Freude, Innovation und unternehmerischer Erfolg sind die Folge.

Wir haben bei Buurtzorg keine gemeinsamen oder geteilten Werte. Dazu sind wir schliesslich viel zu unterschiedlich.

Was ist nun mit Scrum?

Für Scrum ist in der großen Breite der Zug längst abgefahren. Scrum ist zu wenig prinzipienbasiert, birgt zu viel Blaupausenpotential und verführt damit zur Denkfaulheit. Die Ausbildung und Zertifizierung durch die beiden Hauptinstitutionen im Scrum-Universum sind flach. Die Industrie, die sich darum gebildet hat, ist maßgeblich am eigenen, finanziellen Erfolg orientiert. Eine Verständnistiefe im Systemtheoretischen ist bei den meisten Scrum Mastern und Agile Coaches nicht (ausreichend) vorhanden. In den aktuellen Revisionen des Scrum-Guides nun die Verantwortung in Form von Werten auf die Menschen zu schieben oder ein bestimmtes Mindset zu fordern, ist bestenfalls wirkungsfrei und eine linke Nummer. Man kann das als intuitiven, amateurhaften Impuls verstehen, Verständnis für eine solche Unprofessionalität habe ich nicht.

Ist Scrum in klassischen Unternehmen dann überhaupt möglich?

Ja doch! Aber anders. Wir müssen aufhören mit der ganzen Werteschreierei. Sie besteht nur aus behindernder Überhöhung, ist respektlos, übergriffig, ungerechtfertigtes Blaming und beruht auf Symptomarbeit, statt wirkliche Probleme anzugehen.

Besser ist es, Prinzipien des Zusammenarbeitens zu vereinbaren. So kann jedermensch ihren oder seinen Wertekanon beibehalten und an passender Stelle mit einbringen.

Ich möchte für Scrum trotzdem eine Lanze brechen. Scrum ist ein wundervoller Baukasten magischer Möglichkeiten. Wenn man mit Sinn und Verstand herantritt, agile Prinzipien verstanden hat, prinzipienbasiert arbeitet und nicht Blueprinting „by the book“ macht, darauf achtet, dass man keine Prinzipienkonflikte im Unternehmen erzeugt, dann ist Scrum „wert“-voll. Selbst ohne Scrum-Werte vorauszusetzen oder einzufordern.

 
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