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Mythos agiles Mindset

Wieso das Konzept des agilen Mindset irrelevant und wirkungslos ist


 
Peter Pröll

 

Ein Artikel von Peter Pröll
Lesezeit ca. 8 Minuten

 

Speziell in der agilen Community hält sich die Meinung, dass es zu einem wirklich agilen Arbeiten auch das agile Mindset benötigt. Wieso das agile Mindset heutzutage so hoch beschworen wird, wieso das Mindset für wirklich agiles Arbeiten weder relevant noch hilfreich ist, wie Haltung, Verhalten und Mindset von einander abhängen, möchte ich diesem Artikel klären.

Wieso alle vom agilen Mindset sprechen

Mit dem agilen Manifest haben wir neue Prinzipien des Arbeitens eingeführt. Dazu gehört insbesondere das Prinzip der Selbststeuerung, Selbstorganisation und Selbstmanagement von Teams, welches das klassische Organisationsprinzip der zentralen Steuerung durch Führungskräfte und das Prinzip des Managements ablöst. Die dem agilen Arbeiten zugrundeliegende Autorisierung von Teams und die einhergehende Dezentralisierung von Entscheidungen ist wirtschaftlich den alten Management-Paradigmen haushoch überlegen: Zum Einen, da Arbeitsmotivation und Engagement der Kolleginnen und Kollegen massiv wächst. Zum Anderen, da Positionsmacht durch Könnerentscheid ersetzt wird.

Die wirtschaftlichen Erfolge von Teams, die auf diese Art und Weise arbeiten, sprechen für sich. Die Begeisterung und das Engagement tun ihr Übriges: So entsteht ein Hype! Jeder spricht von agilem Arbeiten, von New Work, von Scrum, Kanban und Co. Alle wollen es. Schön und gut! Allein: So einfach ist es nicht.

Mit agilen Prinzipien auf Teamebene in einem klassischen, zentral gesteuertem Unternehmen zu arbeiten erzeugt eine Systeminkonsistenz, ein Ungleichgewicht. Berücksichtigt man das nicht, werden sich die nachgeordneten Prinzipien anpassen müssen.

Die Folge: Agiles Arbeiten wird auf Tools und Methoden reduziert und kann in der Folge ohne Konflikt mit den tayloristischen Prinzipien praktiziert werden. Die agilen Prinzipien spielen dabei keine Rolle mehr. Ein Systemgleichgewicht ist wieder hergestellt. Die „Spielregeln“ sind wieder konsistent. Die wirtschaftliche Überlegenheit, die Motivation und das höhere Engagement gehen trotz Einsatz agiler Methoden und Tools aber weitestgehend verloren.

Bei agil unerfahrenen Menschen, die mit den agilen Tools und Methoden konfrontiert werden, führt diese Art der „agilen Arbeit“ oft zu Verwirrung und Irritation. Bei „alten Hasen“, die wirkliches agiles Arbeiten kennen, wird der Ruf nach dem echten agilen Geist, den agilen Werten und einer agilen Haltung – zusammengefasst: nach agilem Mindset – laut.

Wieso der Ruf nach agilem Mindset schädlich und irrelevant ist

Die Hypothese, die die Mindset-Befürworter aufstellen: Wer das agile Mindset hat, versteht, wieso die agilen Prinzipien missionskritisch sind, und handelt auch entsprechend. Man muß also das agile Mindset verbreiten und eine ganze Community wird regelmäßig darauf eingeschworen! Reflektiert wird diese Mindset-Hypothese offensichtlich nicht mehr.

Die Hypothese fußt auf einigen Denkfehlern. Mein Kollege Niels Pfläging brachte neulich auf Twitter den ersten Denkfehler auf den Punkt:

Wer von „Mindset“ oder von „Haltung“ spricht, meint immer Mindset und Haltung der anderen. Mit denen vermeintlich irgendetwas nicht stimmt.

Ich halte es für übergriffig, die Haltung, das Denken und Mindset von anderen Menschen ändern zu wollen. Das gilt ebenso für Werte. All diese Bereiche sind Privatsache eines jeden individuellen Menschen und niemand sollte anderen das Denken, Werte oder die Haltung vorschreiben wollen. Das ist unethisch und würdelos. Mehr noch: Wenn Sie nicht Obi-Wan Kenobi sind, können Sie das Denken und das Mindset anderer nicht manipulieren und bestimmen.

In einem Unternehmen kommen Kolleginnen und Kollegen mit verschiedensten Werten, Haltungen und Denkweisen zusammen. Die erfolgreichsten Unternehmen werden jene sein, die diese Diversität nicht nur dulden und aushalten können, sondern diese fördern und den Vorteil darin erkennen und nutzen.

Leider ist der Drang, andere von den eigenen Werten, der eigenen Haltung und der eigenen Meinung überzeugen zu müssen, in unserer Gesellschaft weit verbreitet. Diversität wird oft nicht geschätzt. Böse Absichten möchte ich keinem unterstellen. Dabei mag der angestrebte, tiefe Konsens vielleicht bequem sein. Doch bedeutet Konsens auch das Ende der Wertschöpfung, die nur im Dissenz und in Diversität zu finden ist.

Der zweite Denkfehler liegt darin, dass die Haltung bzw das Mindset die Grundlage für das Handeln ist. Es mag überraschen: Anders herum wird ein Schuh draus! Das Handeln beeinflußt Haltung, Mindset und Denken. Wer sich über mehrere Minuten zum Lächeln zwingt, trainiert sein happy Mindset. Wer jede Woche am Stammtisch über die schlechte Welt schimpft, fördert sein deutsches Mindset. Wer handlungslos mit "verknoteten" Beinen meditiert, übt Wu Wei. Und wer schon lange in klassischen Unternehmen als Arbeitnehmer, Führungskraft oder in der Geschäftsleitung arbeitet, der hat sein tayloristisches Mindset perfekt kultiviert. Wenn ich gerade von kultiviert rede. Für Kulturarbeit gilt dieser Denkfehler auch. Handlungen beeinflussen die Kultur und nicht die Kultur das Verhalten. Kulturarbeit ist wohl nicht unbedingt übergriffig, jedoch wirkungslos.

Wer mehr darüber lesen will, wie Handlung und Haltung sich beeinflussen, dem empfehle ich die Lektüre von Alan Deutschman’s „Change or Die“. Meiner Meinung nach ist dieses Buch eine Pflichtlektüre für alle, die beruflich mit Organisationsentwicklung, Change und Transformation zu tun haben.

Prinzipienarbeit statt Mindset-Konformität

Handeln hängt nicht vom Mindset ab. Statt dessen sollten wir uns auf Prinzipien der Zusammenarbeit einigen.

Im Regelfall dürfen wir diese Prinzipien weder für andere und meist nicht einmal für uns selbst definieren. Sie werden durch die Geschäftsführung vorgegeben und durch die Führungskräfte umgesetzt. Das ist Management. Was also tun?

Sind Sie in geschäftsführender Position, dann sind Sie in der einzigen Position, um Prinzipien einzuführen, die neues Arbeiten, höhere Wertschöpfung und höheres Engagement fördern.
Beachten Sie dabei, dass die Art der Einführung sich bereits an diesen neuen Prinzipien orientieren muss, um erfolgreich zu sein. Top-down, Roll-out oder Change-Management sind keine Option für die Einführung zeitgemäßer Prinzipien.
Beachten Sie ausserdem, dass mit dem oft verwendeten Begriff der „Business Agility“ gern impliziert wird, dass man agile Prinzipien auf ein ganzes Unternehmen anwenden könnte. Dem ist nicht so. Die zwölf agilen Prinzipien sind für die Softwareentwicklung ausgelegt und für den Unternehmenskontext nicht ausreichend. Der BetaCodex bietet passende Prinzipien für betriebswirtschaftliche Facetten und die Unternehmenssteuerung. Die agilen Prinzipien fügen sich in den BetaCodex prima ein, ein agiles Arbeiten auf Teamebene ist problemfrei möglich.

Sind Sie Führungskraft und wollen in Ihrem Verantwortungsbereich agiles Arbeiten einführen, dann identifizieren Sie Widersprüche zwischen den bei Ihnen und für Sie geltenden Prinzipien des Managements und den agilen Prinzipien. Führen Sie neue Prinzipien nicht gedankenlos ein. Klären Sie den Autorisierungsrahmen, in dem Sie operieren und den Sie bieten können. Sorgen Sie für Klarheit und Konsistenz. Ist diese nicht gegeben, dann hilft auch kein Mindset-Coaching, um die Verwirrung aufzulösen, die Sie zu verantworten haben.

Wollen Sie als Arbeitnehmer andere Prinzipien, und versuchen Sie diese Bottom-Up über den Kunstgriff des Mindsets durchzusetzen, ist das töricht. Oft werden Arbeitnehmer und zum Teil Führungskräfte zu diesem Vorgehen von Agile Coaches verleitet. Nicht wenige meiner Kolleginnen und Kollegen vertreten den Standpunkt, dass dieses Vorgehen der einzige Weg einer erfolgreichen Transformation sei. Schlimmer noch: Meist werden Agile Coaches in ihrer Ausbildung auf diesen Mythos eingeschworen.

Sie sind Agile Coach? Beschäftigen Sie sich mit Prinzipienarbeit statt mit Mindset. Und wenn Sie jetzt das Gefühl haben, es wäre gut, das agile Manifest wieder einmal zu lesen, tun sie das. Bitte greifen Sie zur englischen Version. Die deutsche Übersetzung ist an entscheidenden Stellen leider mangelhaft.
Vergessen Sie nicht, sich mit übergeordneten Prinzipien zu beschäftigen. Dazu gehören sowohl Taylorismus und Management, als auch der BetaCodex als zeitgemäße Alternative.

 
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